Formen Sprachen unseren Körper und die Körperwahrnehmung?
Der Kontrast zwischen dem Ort, an dem ich geboren und aufgewachsen bin und jenem Ort, an dem ich seit 16 Jahren lebe, könnte größer nicht sein:
Dort Wald-, Berg- und Wiesenidyll, Kühe und Ziegen als Nachbarn, 6km bis zum nächsten Supermarkt , der pünktlich um 19 Uhr schließt. Kulturelle Freizeitangebote sucht man im Umkreis von 70 km vergebens.
Man muss Natur und Berge wirklich lieben und darf sich vor Einsamkeit, menschenfreien Tagen und dem Ausbleiben externer Stimuli nicht fürchten, um es hier auszuhalten.*
*(zugegeben, seit der Erfindung des Internets lässt es sich dort leichter und länger aushalten)

Hier die chaotische Großstadt mit 3,7 Mio. Menschen, wo soziales Elend und unbekümmerte Dekadenz manchmal Seite an Seite koexistieren. Berlin hat den zweifelhaften Ruhm, Extreme anzuziehen und hervorzubringen, sich Reglementierungen zu widersetzen und keine Sperrstunden zu akzeptieren und mehr Kultur im Angebot zu haben, als ein normalsterblicher Mensch je in Anspruch nehmen könnte.
Man darf Natur nicht arg vermissen und muss die Kontraste der Ungleichheit sowie die Energie der vielen Menschen auf vergleichsweise engem Raum gut filtern können, um es hier auszuhalten. Oder sich wahlweise eine dicke Schutzhaut (Typ: „Berliner Patina“) wachsen lassen.

An beiden Orten fühle ich mich – auf andere Weise – zuhause.
An keinem von beiden könnte ich es dauerhaft und für immer aushalten, wenn ich auf den anderen verzichten müsste.
Beide Orte haben meinen Blick auf die Welt und Menschen geprägt, haben Spuren in meinem Denken hinterlassen, mein Fühlen gefärbt und – ich denke, mein Geburtsort mehr, als meine Wahlheimat – geformt, wie ich spreche und Laute male.
Die leisen, vor allem aber die lauten Laute.
Im steirischen Alpenvorland aus dem ich komme, sind Konsonanten, ganz besonders die harten, explosiven (p, t, k) weniger gebräuchlich als in Berlin. Die Artikulation ist unsauberer und weniger spitz, dafür schallen die Vokale im Dialekt umso brachialer.
Gesellig rücken sie zueinander, es sind ja keine Konsonanten da, die sich wie Warentrenner auf einem Kassenband zwischen sie schieben könnten.
Sie verschmelzen, mal zu langgezogenen, mal zu bauchig-voluminösen Zweilauten (Diphtonge) und Dreilauten (Triphtonge).
Beispiel: Die obersteirische Stadt Leoben [leˈoːbn] klingt aus steirischen Mündern wie Leoum [leˈoːum].
Als ich begann, mich mit körpereigenem Klang und Resonanz zu beschäftigen, wurde mir bewusst, wie unterschiedlich sich der Dialekt und das Hochdeutsche körperliche Resonanzräume zunutze machen und in mir klingen.
Vor dem Hintergrund, dass die Denk- und Erzähllogik, mit der wir Informationen verarbeiten, Assoziationen knüpfen, Geschichten erzählen und Probleme lösen, maßgeblich von den grammatikalischen Regeln, dem Wortschatz und den Sprachbildern der eigenen Muttersprache geprägt wird, frage ich mich seitdem:
formt vielleicht nicht nur die Grammatik der Sprachen, die wir sprechen die eigene Logik, sondern auch der Klang der Sprachen, die wir sprechen, die Wahrnehmung und möglicherweise sogar die Formen des eigenen Körpers?
Mit Körperformen meine ich nicht die äußere Gestalt, sondern die inneren Räumlichkeiten und Landschaften. Die Höhlen, Kanäle, Ausbuchtungen, Täler, Hügel, Gräben, Berge, Schluchten, Gipfel, Flüsse, Seen, Horizonte und Uferrändern, an denen etwa der Klang von Leoben seine Kantigkeit verliert und wie ein Stein im Wasser zu Leoum weichgewaschen und rund wird.
„Leoum [leˈoːum]“, wiederhole ich langsam und betont und beobachte, wie sich der Klangstrom vom Zungenschlag des „Ls“ vorne am harten Gaumen mit dem „eo“ wellenförmig den Gaumen entlang nach hinten in den Rachen bohrt und sich schließlich mit dem „oum“ tief in meiner Bauchgrube versenkt.
Wieder und immer wieder.
Steter Tropfen höhlt den Bauch.