Wie entsteht und wahren wir die Erinnerung?

Ich möchte heute etwas gestehen: obwohl ich Friedhöfe als stille Rückzugsorte mag, sind die Gräber meiner Verstorbenen keine Orte, die ich aufsuche, wenn ich ihnen nahe sein möchte oder an sie denke.

Auch wenn ihre Namen auf den Gräbern stehen, sind sie für mich dort weder präsent noch spürbar.

Dafür gibt es viele andere Erinnerungsorte, an denen ich ihnen begegne.

Der schmucklose Bahnhof z.B., an dem mich mein Vater jahrzehntelang abholte wenn ich von Wien und schließlich von immer weiter weg zurück nach Hause anreiste.

Oder die kurvige Landstraße, die sich auf dem Weg zum Haus meiner Oma an der Mur, einem tosenden Fluss, entlang windet.

Wenn ich rote Ribiseln, also Johannisbeeren, sehe, muss ich ebenso an sie denken.

Wegen ihrer famosen Ribiselschnitten, den üppigen Ribiselsträuchern in ihrem Garten und vielleicht auch noch aus anderen Gründen, die mir nicht so deutlich bewusst sind – die Verknüpfung ist in jedem Fall da.

Neben Orten sind es auch Gerüche, Lieder, Klänge, Speisen und viele andere Souvenirs, die uns an Verstorbene denken lassen, die als Brücken hin zu Erinnerungen an gemeinsame Momente dienen können und die innere Begegnungs- und Erinnerungsorte schaffen und ausschmücken.

Nach all dem, was wir über die Funktionsweise des Gehirns wissen, sind Erinnerungen keine geistigen Abziehbilder oder feste Datensätze, die in einem inneren Fotoalbum abgelegt oder auf einer Festplatte abgespeichert werden, bis wir sie wieder hervorgraben.

Erinnerung ist nichts Statisches.

Viel eher handelt es sich neuronale Verknüpfungen verschiedenster Hirnareale, die sich im Moment des Durchlebens ausbilden und im Moment des Erinnerns reaktiviert werden. Streng genommen ist eine Erinnerung also kein Produkt der Vergangenheit, sondern ein Konstrukt der Gegenwart.

Sie wird in der Gegenwart nach einer bewährten Rezeptur konstruiert.

Erinnerung ist kein Produkt der Vergangenheit, sondern ein Konstrukt der Gegenwart.

Wenn wir nicht aktiv daran beteiligt sind, Neues zu lernen oder zu kreieren, greift das Gehirn auf Verknüpfungen zurück, die es schon kennt.

Je häufiger sich ein assoziatives Muster wiederholt, umso stärker prägt es sich aus und umso wahrscheinlicher wird seine Reaktivierung.

Konkret gesprochen: je öfter ich bei meiner Großmutter Ribiselschnitten esse, umso wahrscheinlicher ist es, dass ich auch in Zukunft beim Anblick von Ribiseln an sie denken werde – ob positiv oder negativ.  Eine emotionale Beteiligung in beide Richtungen unterstützt die Ausprägung

Die Kehrseite davon ist, dass sich so – zumindest teilweise – erklären lässt, warum sich Trauer auch nach Monaten oder gar Jahren manchmal noch so frisch und intensivanfühlen kann, wie am ersten Tag.

Denn der Erinnerungspfad, an dem man entlangläuft ist von Schlaglöchern gepflastert, die ins Leere führen, Irritation erzeugen und einen wieder und wieder mit dem Verlust konfrontieren.

Die Lösung ist nicht, Erinnerungspfade die in Trauer münden, gar nicht mehr zu betreten und zu sperren.

Es ist ein wichtiger Teil des Heilprozesses zu realisieren, dass da Löcher und Leerstellen sind.

Es wäre absurd gäbe es keine, denn der Mensch, mit dem man diesen Pfad mal angelegt hat, der ist im Außen nicht mehr da und fehlt und diese Leerstellen spiegeln sich auch im Inneren wieder. 

Es braucht Zeit, dies wirklich zu realisieren. Um zu begreifen, in welcher Form die Beziehung sich durch das Leben gezogen und einen persönlich geprägt hat. Und um die Schlaglochdichte entlang der gemeinsamen Erinnerungspfade zu erfassen. 

Meiner Erfahrung nach braucht es dazu mindestens ein Jahr, um diese Pfade abzulaufen: Geburtstage, Jahrestage, gemeinsame Rituale – ein Lied, das zufällig im Radio gespielt wird und einen komplett aus der Fassung bringt, weil es eine bisher unberührte Verästelung aufscheinen lässt, an der einem wieder bewusst wird: der Mensch ist nicht mehr da und das tut weh.

Trauerprozesse lassen sich nicht beschleunigen und sie sind höchst indivduell.

Selbst von Trauerfall zu Trauerfall können sie sich je nach BeziehungsnäheLebensalter, den Todesumständen wie auch den eigenen Lebensumständen als Hinterbliebene total voneinander unterscheiden.

Den suizidalen Tod meines Bruders als Teenager habe ich auf ganz andere Weise verarbeitet, als das altersbedingte Ableben meiner Großeltern oder die plötzliche Krebserkrankung meines Vaters im Erwachsenenalter. 

Unsere Alltagssprache ist durchsät von Sprichwörtern und Redewendungen, die auf die heilsame Kraft der Zeit verweisen. Die vielleicht bekannteste: „Die Zeit heilt alle Wunden“ – wie sehr habe ich diesen Spruch gehasst, in Zeiten, in denen die Trauer ganz frisch und ungestüm war. 

Rückblickend muss ich sagen: natürlich stimmt es ein bisschen. Weil die Zeit ja nicht einfach nur verstreicht, sondern weil wir früher oder später wieder die Kraft und Motivation finden für neue Erfahrungen und Pfade, die irgendwann stärkere Verbindungen aufweisen, als jene, die von Verlust und Tod gezeichnet sind.

Doch was geschieht mit diesen alten Pfaden? 

Ist es wirklich Heilung, wenn die Zeit sie einfach überwuchert? 

Oder nicht vielmehr dann, wenn man diese Pfade bewusst betritt und pflegt und die Erinnerungen die an ihm entlang gedeihen zu inneren Ressourcen wachsen lässt? 

Veranstaltungshinweis: COMMEMORY – eine lebendige Erinnerungspraxis

Am 30. November (Sonntag – erster Adventsonntag, um genau zu sein), biete ich einen somatischen Online-Workshop an, bei dem das lebendige Erinnern im Fokus steht.

Ausgehend von einer einfach gestalteten Körperpraxis kommen wir vom Spüren ins sensorische ErinnernSammeln und Schreiben, um dann am Ende der gemeinsamen Praxis den oder die Verstorbene und die gemeinsame Zeit erzählend zu würdigen. 

Was mit den Verstorbenen nach ihrem Tod geschieht – wenn ihr Körper als leblose Hülle zurückbleibt – wir wissen es nicht.

Gewiss ist jedoch, dass die Verstorbenen Spuren hinterlassen haben, die oft weit überihren Tod hinaus nachwirken. In uns und um uns. Und dass sie, solange wir sie erinnern und Erinnerungen an sie miteinander teilen, weiterleben.

COMMEMORY ist ein gemeinsamer (community) Akt der Erinnerung (memory).

Damit ein vertrauensvoller, persönlicher Rahmen und ausreichend Zeit zum Teilen für alle gewährleistet werden kann, gibt es nur sechs Plätze

Weitere Infos zur Veranstaltung findest du hier: COMMEMORY – eine lebendige Erinnerungspraxis


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